Sonnek

SV

Auch wenn sich die folgende Geschichte schon vor vielen Jahren ereignet hat, bleiben mir Eindrücke davon immer noch lebhaft vor Augen. Das ist angesichts vieler weiterer prägender Erlebnisse bemerkenswert. Vielleicht ist die Episode deshalb so präsent, weil sie mir eine Lehre mitgegeben hat, die mir äußerst wertvoll wurde und deren Auswirkungen ich nicht missen möchte. Zugetragen hat sie sich im Zuge einer Gerichtsverhandlung, die der Erörterung meines Gutachtens und der Beantwortung einer Frageliste dienen sollte, die der Parteienvertreter der klagenden Partei eingebracht hatte.

Der Streitwert des Verfahrens war nicht unbeträchtlich, beide Anwälte legten sich argumentativ ordentlich ins Zeug, schenkten sich nichts und wussten ihre Auftritte weidlich zu nutzen. Die erwähnte Liste hatte es wahrlich in sich: Sie umfasste – wenn ich mich recht erinnere – über zweihundert Fragen an den Sachverständigen, die wirklich jede noch so feine Facette der gutachterlichen Äußerungen aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtete und kritisierte. Etwa jede zehnte Frage lautete außerdem: „Ist der Herr Sachverständige immer noch der Meinung, dass …“.

Geduld ist gefragt

Die Erörterung erfolgte ausschließlich mündlich, ich hatte mich gut vorbereitet, aber die den Sachverhalt aus meiner Sicht zerfleddernde Fragerei und die Zähigkeit des Ablaufs zerrten arg an meiner Geduld. Damals war ich etwas weniger zurückhaltend, korrekt gesagt weniger vorsichtig, als ich es heute in solchen Situationen bin. Kurzum, irgendwann rutschte mir die zugegeben reichlich unbedachte Äußerung heraus, die Frage, um die es gerade ging, sei im Grunde genommen für das Verfahren gar nicht relevant. – Nach ein paar Sekunden Stille brach – so habe ich es damals empfunden – im Gerichtssaal die Hölle los.

Die Hölle bricht los

Der Rechtsvertreter, dem ich die Auseinandersetzung mit dem Konvolut von Fragen zu verdanken hatte, schien zunächst in die Wortlosigkeit gut gespielten Entsetzens zu verfallen, mühte sich daraufhin, seiner Fassung Herr zu werden, steigerte sich anschließend in eine ausgiebige Suada, die im gebrüllten Begriff „Befangenheit“ ihren Höhepunkt fand und schließlich um Atem ringend in einen Vortrag auslief, der die umgehende Absetzung des Sachverständigen zum Inhalt hatte, der nun nicht mehr tragbar sei, vor allem wegen mangelnden Respekts vor dem Gericht etc., etc.

Bleiben Sie gelassen!

Die Richterin hatte sich gegen Ende des Wortschwalls zu mir gebeugt und mir ins Ohr geflüstert: „Bleiben sie gelassen! Das geht jetzt nicht gegen Sie, sondern gegen mich, man will mich aus dem Verfahren draußen haben …“ Mittlerweile hatte sich der Schallpegel im Saal wieder normalisiert, der gegnerische Anwalt war aufgestanden und nun am Wort. Aus der vor ihm aufgeschlagenen Zivilprozessordnung zitierte er die Gründe, die zur Abberufung eines Sachverständigen führen hätten können, klappte den Text wieder zu, stellte den Antrag, dem Begehren der Gegenseite nicht zu folgen und setzte sich. „Ich hätte eh nicht zugestimmt“, meinte die Richterin trocken, womit die Sache erledigt war. Der Rest der Verhandlung verlief friedlich …

Die fünf Leitsätze

Mitgenommen habe ich daraus: Erstens darf ein Sachverständiger sich nie zu einer unbedachten Reaktion verleiten lassen, auch wenn er noch so sehr provoziert und verbal persönlich angegriffen wird. Zweitens soll er sich bewusst zurückhalten, betont ruhig bleiben, nicht direkt reagieren und sich nicht verteidigen. Drittens soll er erst dann aktiv werden, wenn ihn der Richter oder jemand Autorisierter dazu auffordert. Viertens soll er immer daran denken, dass seine Tätigkeit oder sein Verhalten als Sachverständiger angegriffen wird, nicht aber seine Person. Fünftens soll er jeder Versuchung widerstehen, auch nur sanft ironisch oder zynisch zu antworten, sondern stattdessen korrekt sachlichen Ton beibehalten.

Fazit

Auch noch so aggressiv auftretende Anwälte spielen letztlich nur ihre Rolle als Rechtsvertreter, eben jeder auf seine Art. Aus Sicht eines Sachverständigen sind in der Fülle der täglichen Ereignisse Auseinandersetzungen vor Gericht recht schnell vergessen. Es bleibt keine Zeit für Ressentiments irgendwelcher Art, egal ob gegen Richter, Anwälte oder sachverständige Kollegen. Für psychisch gesunde Menschen, zu denen auch Sachverständige gehören müssen, haben persönlicher Respekt, gegenseitige Wertschätzung und Anerkennung Vorrang, egal ob in entspannter Lage oder in der Hitze irgendeines Wortgefechts. Also: Bleiben Sie gelassen!

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