Sonnek

Intuition

09.07.2021
Fehler

Das Gutachten ist fertiggestellt, aber noch nicht unterzeichnet, nicht abgeschickt oder nicht auf den Server des Gerichts hochgeladen. Abends vor dem Einschlafen habe ich plötzlich den Eindruck, dass in der Textierung etwas geändert werden muss. Ich habe sogar die Stelle vor Augen, die eine Überarbeitung verlangt. Auch die richtige Formulierung wird mir bewusst, ganz ohne Denkanstrengung. Das verläuft so plakativ, so einprägsam, dass ich mir keine Notizen zu machen brauche, weil ich genau weiß, dass die Eindrücke am nächsten Morgen verlässlich da sein werden, vielleicht sogar in nochmals verbesserter Form.

Diese häufigen Erlebnisse haben schon vor Jahren dazu geführt, dass ich fertige Gutachten oder Berichte grundsätzlich nicht sofort weiterleite. Ich weiß, dass meistens noch der letzte Schliff an der Arbeit fehlt. Der eigene Anspruch lautet, keine Sache aus der Hand zu geben, die nicht die Möglichkeit einer intuitiven Korrektur bekommen hat. Das beste Mittel dazu ist, die Arbeit zumindest eine Nacht liegenzulassen, in besonders heiklen oder schwierigen Fällen sogar ein oder zwei Tage. Erst wenn die Korrektur eingefügt ist und sich keine intuitiven Regungen mehr bemerkbar machen und der innere Friede erhalten bleibt, ist die Arbeit wirklich abgeschlossen.

Einsichten ohne Nachdenken

Es geht also um das Thema Intuition. Das sagt Wikipedia dazu: Intuition ist die Fähigkeit, Einsichten in Sachverhalte, Sichtweisen, Gesetzmäßigkeiten oder die subjektive Stimmigkeit von Entscheidungen zu erlangen, ohne diskursiven Gebrauch des Verstandes, also etwa ohne bewusste Schlussfolgerungen. – Wohl alle Menschen haben von Zeit zu Zeit Erlebnisse, die dieser Kategorie zuzuordnen sind. Manche Menschen reden vom Bauchgefühl, andere vom sechsten Sinn, von Ahnung, einem bestimmten Empfinden. Als Christ ist mir eine unsichtbare, aber spürbare Realität bewusst: Die Eingebung des Heiligen Geistes, mit dem ich kommunizieren kann und der mir seine Sicht offenbart.

Das unbestimmte Gefühl, dass etwas nicht stimmt

Ein weiteres Feld, in dem der Verstand außer Dienst gestellt ist und Intuition eine Rolle spielen kann, ergibt sich in der Sachverständigenarbeit oft schlicht dadurch, dass in der Betrachtung von geschilderten Sachverhalten das unbestimmte Gefühl auftritt, dass etwas nicht stimmt. Das muss nicht bedeuten, dass Wichtiges fehlt, dass Dinge zurückgehalten werden, dass die Gegebenheiten auf Gegensätzliches hinweisen würden oder die eigne Wahrnehmung sich dagegen sträubt. Nein, rein äußerlich spricht nichts gegen die geschilderten Umstände. Aber die innere Warnung lässt sich nicht verscheuchen, führt zu höherer Achtsamkeit und hat letztlich sehr oft recht.

Wissenserwerb und Intuition

Auf einen anderen Zusammenhang, in dem Intuition für Experten grundsätzlich eine Rolle spielt, haben die Brüder Dreyfus* schon vor vielen Jahren hingewiesen. Sie sprechen sogar von der Macht der menschlichen Intuition, die unser Leben mehr mitbestimmt, als wir erfassen können. Sie zeigen auf, dass unser stilles oder implizites Wissen mit Intuition zusammenspielt. Implizites Wissen ist eines, das – wiederum nach Wikipedia – so wirkt, dass wir etwas können, dass wir aber nicht in der Lage sind, anderen mit Worten zu erklären, wie es geht und worum es sich dabei handelt.

Implizites Wissen ist allgegenwärtig

Das wohl bekannteste Beispiel für implizites Wissen ist das Radfahren: Wir können versuchen, es einem Fahrschüler bis ins letzte Detail zu erklären, können es aber letztlich nicht an andere vermitteln, die es lernen wollen. Wir werden zwar mit gutem Rat beiseite stehen, aber das implizite Wissen, also das praktische Wissen und Können dazu, bestehend aus technischen Fähigkeiten und einem hohen Maß an Körperkontrolle, muss sich jeder selber erwerben. Für das Autofahren gilt das in anderem Maße wohl auch, wie überhaupt für viele Tätigkeiten des menschlichen Lebens. Einmal gelernt läuft es dann intuitiv.

Die höchste Stufe des Expertenkönnens

Die Brüder Dreyfus zeigen nun in ihrem Buch, dass Experten aller Art – also auch Sachverständige – in mehreren Stufen „heranwachsen“, worauf ich in einem früheren Artikel bereits eingegangen bin (siehe hier). In der letzten und höchsten Stufe seiner Professionalität agiert der Sachverständige weitgehend intuitiv: Er begibt sich gewissermaßen in die Aufgabe hinein, blickt sich um und weiß meist recht rasch, was Sache ist und was zu tun ist. Er kann sich auf sein Wissen und Können verlassen. Er stellt sein Gutachten fertig. Vielleicht überschläft er es aber noch eine Nacht …

*) Dreyfus/Dreyfus: “Mind over Machine – The Power of Human Intuition and Expertise in the Era of the Computer”, New York 1988

Comments are closed.

Copyright ©2012 Ing. R. Sonnek GmbH