Sonnek

Die Rehkitz-Legende

12.06.2020
Legende

In der Volksschule habe ich grundlegende Dinge gelernt, die für mein Leben nachhaltig prägend, wegweisend, wichtig und hilfreich waren. Fertigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen. Prinzipien unseres menschlichen Zusammenlebens. Auch wesentliche Anbelange unseres Umfeldes und der Natur gehörten dazu. Unsere Lehrerin war gewissenhaft, ihr Lehrstil nachdrücklich und einprägsam. Sie hieß Fleischhacker und vielleicht auch deshalb war mit ihr in Bezug auf Disziplin nicht zu spaßen. Und in Dingen, die wir uns fürs Leben merken sollten war sie sehr, sehr deutlich. Dazu gehörte auch die Sache mit den alleingelassenen Rehkitzen.

Sollten wir in Wald oder auf der Wiese eines solchen ansichtig werden, dürften wir es unter keinen Umständen berühren. Denn, so wurde uns erklärt, würde die Rehmutter am Kleinen auch nur den zartesten Hauch menschlichen Kontakts wittern, würde die es sofort verstoßen. Das arme Geschöpf wäre damit einem qualvollen Hungertod ausgeliefert. Entsprechendes wurde wahrscheinlich auch den Generationen vor und nach uns eingetrichtert, nicht nur in Bezug auf Rehe: Meine neulich auf Besuch weilende und längst erwachsene Tochter warnte mich, ein im Garten vereinsamt vorgefundenes Vogelkind anzutasten, denn die Mutter … siehe oben.

Die Botschaft wirkte

Zurück zum Rehkitz. Ich hätte das in der Volksschule Gelernte wohl beherzigt. Mit Sicherheit hätte ich das Tierchen nicht angerührt. Zu tief wäre die Sorge gewesen, andernfalls vom Jagdpächter als Urheber eines Rotwild-Waisenkind-Kadavers erwischt als Tiermörder dazustehen und folglich als Missetäter abgestraft zu werden. Ebenso bremsend wäre der tief eingewurzelte Respekt vor der Lehrerin und dem Nachhall ihrer mahnenden Worte gewesen. Allerdings bin ich – fast schon zu meinem Bedauern – anlässlich von Wanderungen oder Spaziergängen nie auch nur auf den geringsten Anschein eines einsamen Rehkitzes gestoßen.

Der Leibförster klärt auf

Diese Sache galt für mich, bis ich in der Jagdschule Erzherzog Johann im gleichnamigen Hotel in Graz einen Vorbereitungskurs zur Jagdprüfung besuchte. Der Vortragende, wenn ich mich recht erinnere, ein Julius Lechner, hatte sich als ehemaligen Leibförster des obersten Vertreters eines Fürstenhauses vorgestellt. Offenbar also ein altgedienter Jäger, der wusste, wovon er sprach. Irgendwann wurden auch die verlassenen Rehkitze zum Thema. Lachend verwies er die Sache in das Reich der Fabeln. Eine Rehmutter würde ihr Kind genauso wenig verstoßen wie eine menschliche Mutter, wenn ihr Sprössling einmal von jemand anderen berührt würde.

Präventives Jägerlatein

Diese Aussage wurde für mich eine Art Offenbarung. Nicht derart, dass ich sie fortan als Aufforderung zum Rehkitz-Streicheln gesehen hätte. Nein, sondern in der Weise, dass es offensichtlich Dinge gab, in denen wir – aus uns verborgenen Gründen – über wahre Sachverhalte nachhaltig getäuscht werden sollten. Die Jäger wollten schlicht, dass ihr Wild in Ruhe gelassen werden möge, um ungestört der Hege und in der Folge dem Weidwerk frönen zu können. Die Rehkitzgeschichte war also nichts anderes präventives Jägerlatein. Genauer: Eine Lüge der Weidmänner und -frauen, bestimmt auch zu ihrem Eigennutz und Vorteil.

Warum ich das alles schreibe?

Ganz einfach: Wenn ich Diskussionen zu manchen Themen verfolge, sehe ich des Öfteren wieder ein Rehkitz vor mir. Nur gehören diesmal die Verbots-Finger des Nicht-Anstreifen-Dürfens nicht Weidwerkern, sondern Politikern und Vertretern von irgendwelchen NGOs. Und die Finger schwenken nicht vor zarten Tierkörpern hin und her, sondern vor Aussagen, die uns als Ergebnisse eines gesicherten wissenschaftlichen Konsenses präsentiert werden. Die wir gefälligst als gegeben zu akzeptieren hätten und die nicht hinterfragt werden dürfen. Für deren Nichtanerkennung die Stigmatisierung als Leugner und damit gesellschaftliche Ächtung drohen.

Zweifel gehört zur Wissenschaft

Wenn Einwände nicht mehr geäußert werden dürfen, wenn Bedenken nicht erlaubt sind, ja wenn Wünsche nach Diskussionen mit dem Hinweis auf vorgeblich gesicherte Wissenschaft vom Tisch gewischt werden, wenn uns aufoktroyiert wird, woran wir zu glauben haben, dann ist nicht nur für die Meinungsfreiheit, sondern auch für die Wissenschaft Feuer am Dach. Richard Feynman war Nobelpreisträger für Physik, nicht nur exzellenter Wissenschaftler, sondern auch ausgezeichneter Lehrer. Der sagte folgendes: „Wissenschaft ist eine Kultur des Zweifels, Religion ist eine Kultur des Glaubens.“ Wir können ergänzend hinzufügen: „Politik ist eine Kultur des Konsenses.“

Gibt es gesicherte Wissenschaft? Gibt es wissenschaftlichen Konsens?

Die Antwort des Philosophen Karl Popper zur ersten Frage lautete schlicht nein, was auch beinhaltet, dass man immer Fragen stellen können muss. Pointiert zu beiden Fragen die Meinung von Michael Crichton, erst Arzt, Wissenschaftler, Dozent, dann Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur: „Historisch gesehen war der Anspruch auf Konsens immer eine Zuflucht von Gaunern. Es ist ein Weg, Diskussionen zu vermeiden, indem man beansprucht, eine Sache sei bereits gesichert.“ Und „Wenn Du davon hörst, die Wissenschaftler hätten Konsens in der einen oder anderen Sache, dann halte Deine Geldbörse fest, denn man will Dich reinlegen.“

Die Rolle der Aktivisten

Und wenn jemand alle drei Sphären Wissenschaft, Religion und Politik miteinander vermischt, ist er ein Aktivist. Das ist jemand, der etwas lobbyiert, der eine bestimmte Agenda hat, der die genannten Sphären als Läden sieht, aus denen er sich jener Versatzstücke und Werkzeuge bedient, die er auf dem Weg zu seinem Ziel gerade braucht. Die Anzahl von Aktionisten wächst inflationär. Anscheinend gilt: Wer wichtig tut und lautstark ist, nennt sich heute Aktivist. Man sehe sich nur die zahlreichen Kommentare solcher Leute in diversen Tageszeitungen an, die sich ausnahmslos auf das Wiederkäuen von Schlagworten aus der jeweiligen Propagandaecke beschränken.

Was ist zu tun?

Für alle, die in den Bereichen der Naturwissenschaften und Technik zu Hause sind, Freiberufler, Ingenieure, Sachverständige etwa – als solcher kann ich mich äußern – muss gelten: Wie auch sonst immer werden wir in Auseinandersetzungen, die kommen werden, nüchtern und sachlich bleiben, das entspricht unserem Naturell. Aber wir müssen die aus unserer Sicht kritischen Dinge klar und deutlich beim Namen nennen und ins rechte Licht rücken. Wenn es sein muss, auch lautstark. Das tun wir weniger gern, weil wir gewohnt sind, zurückhaltend zu agieren. Aber es muss sein, allein schon aus Verantwortung für unsere Angehörigen, Mitmenschen und für die kommenden Generationen.

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