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Lupe

In den meisten Pressekonferenzen, die in der momentanen Krise abgehalten werden, kommt irgendwann ein Bezug zur Aussage eines Experten. Manchmal haben wichtige Entscheidungsträger Wissenschaftler zur Unterstützung persönlich an ihrer Seite. Auch Nachrichten und andere Medienbeiträge kommen nicht ohne diese Träger besonderen Wissens aus. Jedenfalls hängen zurzeit viele an deren Lippen, in der Hoffnung, aus ihren Ausführungen mehr Sicherheit in unsicherer Zeit zu bekommen. Anlass, sich mit der aktuellen Rolle von Experten – zu denen auch Sachverständige zählen – auseinanderzusetzen.

Caspar Hirschi ist Professor für Geschichte an der Universität St. Gallen in der Schweiz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört das Verhältnis von Wissenschaft und Politik. 2018 veröffentlichte er sein Buch „Skandalexperten, Expertenskandale – Zur Geschichte eines Gegenwartsproblems“. Der Ausgabe 12/20 der Zeitschrift „VDI-Nachrichten“ gab er ein ausführliches Interview, aus dem nachfolgend zitiert wird. Thema war auch hier das Verhältnis von Experten und Politik. Naheliegenderweise nahm die Corona-Krise Raum ein und manche sehr vage Stellungnahmen von Experten dazu.

Zur Zurückhaltung von Wissenschaftlern …

Auf die Frage, warum sich Wissenschaftler zurückhalten, selbst dann, wenn Experten sich unrichtig verhalten hätten oder gar Skandale hervorgerufen haben, meinte er (Zitate kursiv):

Viele orientierten sich an einer Regel, die für Experten gilt, seit ihre Rolle im Gerichtswesen der frühen Neuzeit entstanden ist: Experten reagieren auf Anfragen. Sie sind Antwortgeber, keine Aktivisten. Um in eine laufende Kontroverse zu intervenieren, müssten sie die Expertenrolle mit jener des Kritikers vertauschen. Aber mit dieser sind die meisten Forschenden, besonders in den Naturwissenschaften, nicht mehr vertraut.

… und zur Gefahr der Selbstüberschätzung

In dieser Rolle als Antwortgeber komme es öfter vor, dass Experten Fragen beantworten sollen, die gar nicht in ihre Spezialkompetenz fallen. Die Interviewfrage, ob Experten bisweilen der Mut zur Lücke fehlen würde, beantwortet er so:

Ich würde es anders formulieren: Es fehlt ihnen bei Expertenauftritten manchmal der Mut, wissenschaftliche Ungewissheit oder Unsicherheit offen einzugestehen, und manchmal passiert es ihnen, dass sie die eigenen Kompetenzen massiv überschätzen. Letzteres ist in der aktuellen Berichterstattung über das Coronavirus zu beobachten: Die Forschung hat eben erst begonnen, der Kenntnisstand ist äußerst lückenhaft, zur Sterblichkeit gibt es erst grobe Schätzungen, Prognosen zum weiteren Verlauf sind unzuverlässig. Deshalb ist es zentral, dass Experten klarstellen, wo das Wissen endet und die Spekulation beginnt. Das gelingt aber längst nicht allen. Es gibt Experten, die in Massenmedien abenteuerliche Angaben zur Sterblichkeitsrate machen, ohne offenzulegen, dass ihnen dazu jede wissenschaftliche Grundlage fehlt. Corona ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch bei einem Problem, wo Expertise zentral ist, die Verantwortung aufgrund der hohen Unsicherheit ganz bei der Politik liegt.

Zur Skepsis vieler Menschen gegenüber Expertenaussagen

Angesichts vieler unterschiedlicher Informationsquellen und manchmal purer Stimmungsmache macht sich bei vielen Menschen Skepsis gegenüber seriösen Expertenaussagen bemerkbar. Dazu sagt Hirschi:

Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Großbritannien und Amerika den Spruch: „Es gibt drei Typen von Lügnern: einfache Lügner, unverschämte Lügner und wissenschaftliche Experten.“ Der Spruch wurde von Politikern, Richtern und sogar von Wissenschaftlern selbst zum Besten gegeben. Experten sind mit ihrem privilegierten Zugang zu Entscheidungsträgern und mit ihrem überlegenen Wissensanspruch für jede egalitäre Gesellschaft eine Provokation. Deshalb ist Kritik an ihnen legitim und wichtig. Entscheidend ist jedoch, dass es eine qualifizierte Kritik ist, nicht eine pauschale, wie wir sie heute hauptsächlich von Populisten hören. …

Bedienen sich politische Parteien der Wissenschaft?

Interessant auch seine Anmerkung zur Frage, ob sich bestimmte politische Parteien mehr nach dem richten, was die Wissenschaft sagt und schreibt:

Ich würde eher sagen, die verschiedenen Parteien suchen sich bestimmte Wissenschaften aus, von denen sie sich am ehesten Unterstützung für ihre Programme erhoffen. Bei den Grünen zeigt sich das am augenfälligsten: Wenn es ums Klima geht, orientieren sie sich voll und ganz an den Modellen der Wissenschaft und rufen alle anderen Akteure auf, die wissenschaftlichen Warnungen endlich ernst zu nehmen. Geht es jedoch um Gentechnik oder um Homöopathie, können sie sich problemlos gegen die Wissenschaft auf diesen Gebieten stellen. …  (nur) haben sie diese Widersprüche erkannt und führen mittlerweile eine interne Debatte darüber.

Zum Thema Grenzwerte

Eine in einem anderen Zusammenhang gemachte Aussage sei hier noch zum Schluss erwähnt. Sie dreht sich um die Diskussion über zulässige Grenzwerte, zum Beispiel von Emissionen, sowie um deren wissenschaftliche Untermauerung:

Ein Grenzwert ist kein objektives Produkt der Forschung, sondern Resultat eines Aushandlungsprozesses. Ob und wie er umgesetzt wird, hängt wiederum von Fragen der Praktikabilität und der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kosten ab.

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