Sonnek

Adler

Ein sehr komplexes Gerichtsverfahren steht an. Allein der Gerichtsakt hat schon fast zweitausend Seiten. Die erste Parteien- und Zeugeneinvernahme ist auf die Dauer von eineinhalb Tagen angelegt, hauptsächlich wegen der großen Anzahl von Zeugen. Die Anreise zum Gerichtsort erfordert auch einen halben Tag. Bereits in die Vorbereitung über einen Zeitraum mehrerer Wochen hat der Sachverständige viele Stunden investiert. Denn er will ausreichend Durchsicht bekommen, um bei den Einvernahmen die richtigen Fragen stellen zu können. Als es dann soweit ist, kommt alles ganz anders als erwartet.

Doch schön der Reihe nach. Ein Gutachtensauftrag existierte noch nicht. Das Gericht wollte den Sachverständigen zu den ersten Einvernahmen hinzuziehen, bevor noch die Fragen an den Sachverständigen formuliert wurden. In der Vorbereitung war er daher erst einmal damit beschäftigt, nach ausgedehntem Studium relevante Fakten aus den Akten zu „extrahieren“. Das hieß, sich langsam Baustein um Baustein an die Materie heranzuarbeiten. Nach so einer Prozedur steht man vor einem großen Berg ungeordneter Informationen, was anfangs ganz schön frustrierend sein kann.

Fakten aufbereiten

Denn danach gilt es, diesen Berg Schritt für Schritt abzutragen und in eine Ordnung zu bringen, die eine Übersicht erlaubt. Erst aus letzterer heraus ist es dann möglich, Fragen zu stellen, wobei noch zu beachten ist, dass für die meisten Fragen nur bestimmte Zeugen infrage kommen. Im gegenständlichen Fall wurden zwei thematische Schwerpunkte gesetzt. Der erste betraf sämtliche technischen Gesichtspunkte, einschließlich Fragen nach dem Stand der Technik und nach dem Innovationsgehalt von Anlagen. Der zweite konzentrierte sich auf die organisatorischen Abläufe und die Chronologie der Ereignisse.

Fragelisten

Es ist festzuhalten, dass diese gesamte hier dargestellte Arbeit des Sammelns, Kategorisierens und Verwertens bei einem umfangreichen Gerichtsakt geistig und körperlich sehr anstrengend, ja regelrecht erschöpfend sein kann. Aber erst die gewonnene Übersicht gibt ausreichendes Material und genug Rückhalt, um die Stoßrichtung der Fragen an die Parteien und Zeugen erst zu skizzieren und später genau festzulegen. Die ausformulierten Fragelisten mit den Bezügen zum Akteninhalt bilden dann das „Gepäck“, mit dem der Sachverständige die Reise zum Gericht antritt.

Fiktives vor der Verhandlung

Es ist noch einer Betrachtung wert, mit welcher Haltung und Erwartung der Sachverständige in diese für ihn erste Verhandlung geht. Im Normalfall wird er erwarten, dass er die Richterin vorher zu einem kurzen Informationsgespräch trifft, sie über den Stand der Dinge informiert und danach die Verhandlung eröffnet wird. Nach Beendigung der üblichen Formalitäten und der Sondierung des Gerichts, ob ein Vergleich möglich ist, würden die Einvernahmen starten. Damit käme auch er selber an die Reihe. Und das wäre genau der Moment, auf den er sich die letzten Wochen eingestellt und auf den er sich intensiv vorbereitet hat.

Frontalangriff in Richtung Vergleich

Aber was passiert wirklich? Das Vorgespräch mit der Richterin findet statt. Die umfangreiche Frageliste nimmt sie gerne entgegen, die Meinungen des Sachverständigen nimmt sie wohlwollend zur Kenntnis. Dann eröffnet sie die Verhandlung. Auch die Formalitäten werden erwartungsgemäß abgehandelt. Dann kommt die Frage nach einer Bereitschaft zum Vergleich. Aber in diesem Fall legt sie ihr ganzes Gewicht in die Durchsetzung eines solchen. Die Parteien werden wechselseitig „bearbeitet“, die Intensität des Versuches steigt. Ein Erfolg zeichnet sich ab, als die Parteien mit ihrem Rechtsvertretern zeitweilig den Saal zu internen Beratungen verlassen.

Funktioniert der Sachverständige?

Was tut der Sachverständige derweil? Nicht viel. Er sitzt ruhig da, redet nur, wenn er gefragt wird. Aber er hat für die Richterin eine wichtige Funktion. Nach der Rechtslage ist der Sachverständiger einerseits Beweismittel, andererseits auch Helfer des Gerichts, dem er seine Expertise zur Verfügung stellt. An diesem Verhandlungstag aber fühlt er sich weniger als Beweis-, sondern eher als Drohmittel. Die Richterin inszeniert den Sachverständigen und vor allem seine umfangreiche Frageliste, die sie wiederholt hin- und herschwingend hochhält, als Damoklesschwert.

Finale

Beide Parteien lassen sich vom Argument der Richterin, dass dieses Schwert im Fall der Verweigerung eines Vergleichs unweigerlich und zu ihrem Schaden auf sie niedergehen würde, überzeugen und stimmen einem Vergleich zu. Dieser wird unter kurzer Beteiligung des Sachverständigen ausformuliert und unterzeichnet. Beide Parteien verzichten sogar auf eine Nachfrist, bis zu deren Ende eine einseitige Kündigung möglich wäre. Für das Verfahren wird noch im Gerichtssaal ewiges Ruhen vereinbart. Die erste Verhandlung dauert nicht eineinhalb Tage, sondern nur drei Stunden. Das war’s, alles erledigt!

Fazit

Bei der Rückfahrt im Zug lehnt sich der Sachverständige in seinem Sitz zurück und beginnt, die ganze Sache zu reflektieren. Die stattliche Gebühr für die Mühen des Sachverständigen war noch in der Verhandlung widerspruchslos akzeptiert und protokolliert worden. Die ganze Mühe für die Frageliste scheint umsonst gewesen zu sein. Sie wurde nicht gebraucht, zumindest nicht im Sinne einer Frageliste. Aber sie spielte eine andere Rolle – die als Drohmittel – und die führte schließlich auch zum Erfolg. Also hat sich die Arbeit doch gelohnt, sie war nicht umsonst. Aber auf andere Weise, als gedacht. Sein Fazit: Auch Sachverständige lernen nie aus …

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