Sonnek

Hände

„Ich bitte Sie um zweihundert Euro, weil ich sonst nicht nach Hause komme – eine kleine Summe für Sie, eine große Hilfe für mich!“ Der gutgekleidete, stattliche und seriös auftretende Mann hat sich Ihnen am Flughafen auf dem Gang zu Ihrem Abflug in den Weg gestellt. In ausschweifenden Handbewegungen und eindringlichen Worten erklärt er seine plötzliche, unverschuldete und für ihn äußerst prekäre Notlage. Dabei überreicht er Ihnen seine Visitenkarte und beteuert, dass er selbstverständlich sobald der zu Hause ist seine Schuld begleichen wird, wenn Sie ihm Ihre Visitenkarte und die Daten Ihres Bankkontos überlassen …

Ein lieber und hochgeschätzter Bekannter hat derlei in ähnlicher Form erlebt. Er freute sich auch über ein E-Mail des Beliehenen mit einem artigen Dankeschön für die geleistete Hilfe. Allein, das versprochene Geld lässt auf sich warten …

Spontane Hilfe …

Der Bekannte hatte wie wahrscheinlich die allermeisten Menschen, die biblische Prinzipien verinnerlicht haben, in selbstloser Weise agiert und war der Bitte spontan und in bestem Vorbild nachgekommen. Die Möglichkeit, das Geld nicht wiederzusehen, war in diesem Augenblick der raschen Hilfe nicht weiter von Bedeutung. Schließlich wäre er ohnehin bereit und auch durchaus in der Lage gewesen, zur Linderung eines echten Notfalls auf den geliehenen Betrag zu verzichten. Aber andererseits hat er der Person doch vertraut und ihrem Versprechen, die Schuld begleichen zu wollen. Insofern könnte er sich beim Empfänger melden und diesen mehr oder weniger nachdrücklich an sein Versprechen erinnern, dessen Adresse oder zumindest E-Mail-Kontaktdaten hätte er ja.

… mit leicht schalem Nachgeschmack

Nur: Wer tut sich diese Mühe wegen eines Betrages von zweihundert Euro an? Die Summe war zwar groß genug, um für den Betroffenen eine Hilfe zu sein, aber für den Gläubiger doch irgendwie zu gering, um sich derentwegen Unannehmlichkeiten auszusetzen. Allerdings hinterlässt diese ungelöste Situation vorerst einen etwas schalen Nachgeschmack. Und vielleicht leise Zweifel: Denn wäre es möglich, dass da hinter dem Agieren des Ausleihers oder sagen wir dieses Nutznießers eines unbefristeten Kredits auf Basis von Nullzinsen und dessen Nichtbegleichens vielleicht gar so etwas Garstiges wie Absicht liegen könnte?

Steckt System dahinter?

Nun, wenn man über vierzig Jahre im Geschäftsleben steht, viele Höhen und Tiefen und die unglaublichsten Situationen durch- und überlebt hat, hat man sich auch so etwas wie strategisches Denken angeeignet oder aneignen müssen. Es ist ohne Zweifel beispielhaft, wenn wir freigiebig und großzügig sind und unseren Mitmenschen bedingungslos helfen. Wir dürfen aber niemals bedingungslos naiv sein, denn die menschliche Existenz hat überraschend viele Facetten. Innehalten und Reflektieren über Erlebtes ist nie von Nachteil. Sieht man nämlich von der Möglichkeit ab, dass hier eine echte Notlage gegeben war und das Geld nur versehentlich nicht zurückkommt, stellt man sich angesichts des zuvor angedachten Kalküls fast zwangsläufig die Frage: Mit welchem System des Geld-Abknöpfens könnten wir es hier zu tun haben?

Nur mal eine Hypothese …

Schlüpfen wir gedanklich in die Schuhe eines derartigen Bittstellers und entwickeln wir eine Hypothese: Wir begeben uns dazu in die Abflugwege eines stark belebten Flughafens und sprechen einzelne Personen an, die wir aufgrund unserer guten Menschenkenntnis als potentielle Geber einschätzen und von denen wir annehmen, dass sie uns wegen der hohen Frequenz an diesem Ort künftighin nicht so bald wieder über den Weg laufen werden. Der Betrag, um den wir bitten, muss für den Befragten sofort greifbar sein, darf also nicht zu hoch sein, aber auch nicht zu niedrig, weil sonst die Mühe den Aufwand nicht lohnt und der Bittsteller noch dazu unglaubwürdig erschiene. Zweihundert wären so gesehen gerade recht. Nehmen wir zudem an, wir nähmen uns regelmäßig Zeit und würden jeden Tag zu zehn Personen Kontakt suchen. Bei der Hälfte, also fünf, seien wir erfolgreich. Das ergäbe pro Tag fünfmal zweihundert, somit einen Tausender, in einer Arbeitswoche per Saldo fünftausend Euro.

… die es aber in sich hat!

Unser monatliches Einkommen beliefe sich demnach auf etwa zwanzigtausend Euro, was nicht gerade wenig ist. In zehn Monaten “Arbeit” pro Jahr – wir brauchen ja auch Urlaube und Auszeiten, außerdem wird man sinnvollerweise mehrmals die Flughäfen wechseln – macht das zweihunderttausend, steuerfrei, versteht sich. Abzüglich der eigenen Kosten und der geringen Aufwendungen für einige Rücküberweisungen an besonders hartnäckige und unbequeme Zeitgenossen, die allen Ernstes ihr Geld wiedersehen wollen, ein nettes Sümmchen, von dem sich angenehm leben ließe: Gewiss für manche ein interessantes Geschäftsmodell. Ende der Hypothese.

Was folgt daraus und wie verhalten wir uns jetzt?

Und wieder bittet uns jemand um rasche zweihundert Euro, in bar, wegen Notlage und so. Was tun wir jetzt? Abermals das Gleiche? Oder was sonst? Egal, ob wir letztlich aus welcher Veranlassung auch immer die Geldbörse zücken werden oder nicht: Vielleicht sollten wir vorher unter Bedacht auf all das vorhin Gesagte mit einem einfachen Test den tatsächlichen Ernst der Lage prüfen, indem wir etwa in folgender Weise antworten:

„Natürlich helfe ich Ihnen gerne, die zweihundert Euro sollten kein Problem sein und ich könnte Sie Ihnen prompt geben. Allerdings kennen wir uns nicht, und ich weiß nicht, ob ich dieses Geld jemals zurückbekomme. Bitte verstehen Sie: Auch ich habe Verantwortung gegenüber Familie, Unternehmen etc., die zweihundert Euro könnten mir plötzlich fehlen und ich wäre dann wie Sie jetzt in der Situation, mir zweihundert Euro borgen zu müssen. Damit ich dieses Problem ausschließen kann, meine Frage an Sie: Welche materiellen Sicherheiten – sprich: welches Pfand – im Gegenwert von zweihundert Euro können Sie mir genauso prompt geben? Denken Sie etwa einen persönlichen Wertgegenstand, einen Ring, eine Uhr, etc. Im Fall der Rückzahlung sende ich den Gegenstand natürlich sofort zurück.“

Alternativvorschlag: Deal auf Augenhöhe

Eine neue Situation tut sich auf: Aus der zuvor etwas schiefen Ebene einer eher erzwungenen Gabe mit einseitiger Risikogewichtung würde eine Transaktion auf Augenhöhe mit etwa gleichgewichteter Risikoverteilung und Notwendigkeit eines wechselseitigen Vertrauensvorschusses.

Wir werden daraufhin mit ziemlicher Sicherheit in ein verdutztes Gesicht blicken, aber:

-          Wer wirklich in Not ist, wird uns jetzt ein ernst gemeintes Angebot machen, das wir annehmen aber natürlich auch unbeachtet lassen können, wenn wir das Geld ohne die angebotene Sicherheit weitergeben wollen. Jedenfalls scheint Hilfe gerechtfertigt.

-          Wer aber im Rahmen eines Geschäftsmodells gemäß obiger Hypothese agiert, wird sich ziemlich abrupt und wortlos abwenden und ein anderes Opfer suchen. Hilfe war nicht nötig!

Wie würden Sie in der oben beschriebenen Situation reagieren? Über Ihre Antwort im Rahmen einer regen Diskussion würde ich mich freuen!

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