(IRS) – Es ist erstaunlich, wie sich manche Wege kreuzen, wie sich unterschiedliche Themen aus verschiedenen Zeitepochen und im Zusammenhang mit historisch bedeutenden Menschen in realen örtlichen Schnittpunkten treffen können. – Dieser Satz klingt verwirrend und ist es im ersten Moment auch. Sein Inhalt lässt sich nach und nach auflösen, aber nur von demjenigen, der bereit ist, in das fein gesponnene Netz einer besonderen – in unserem Fall technischen – Gedankenwelt einzutauchen. Vielleicht wäre das zu Sagende besser in einer Geschichte, einem Essay oder einem Roman aufgehoben. Versuchen wir es trotzdem.
Karl Ritter von Ghega
Carlo Ghega, Venezianer albanischen Ursprungs, geboren 1802, hochbegabt in Mathematik, mit 16 Jahren Studienabschluss mit Diplom für Ingenieurwesen und Architektur, mit 17 Doktor der Mathematik, danach Berufslaufbahn im Straßen- und Wasserbau in Venetien, mit 31 erstes Fachbuch veröffentlicht, ab 1836 Bauleiter im österreichischen Eisenbahnbau, ab 1842 verantwortlich für Gesamtplanung der Südbahn, Studienreisen nach Westeuropa, England und in die USA. 1844 Plan für Überquerung des Semmerings mit normalen Dampflokomotiven, damals von anderen Ingenieuren als unmöglich erachtet.
Ghega in den USA
Es war mir bis vor kurzem unbekannt, dass sich Ghega zum Studium der Fortschritte im Eisenbahnwesen 1842 in den USA aufgehalten hat. Sein vorrangiges Ziel war die Baltimore and Ohio Railroad, die älteste Eisenbahnlinie Amerikas, deren Bau bereits im Jahr 1828 begonnen hatte. Die Bahn musste ausgehend von Baltimore die Appalachen überqueren: 1834 war Harpers Ferry erreicht, im Jahr 1842 die erste große Gebirgsstrecke bis Cumberland fertiggestellt. Ghega konnte zum Zeitpunkt seines Besuchs die gerade fertiggestellte Strecke abfahren und deren Verlauf und Konstruktion genau studieren. Davon zeugen zwei seiner Veröffentlichungen, deren Titel unten angegeben sind. Seine Erkenntnisse stärkten die Überzeugung, dass auch der Semmering bezwingbar sein würde.
Die Semmeringbahn im Zeichen politischer Spannungen
Wer die Karte von Österreich-Ungarn aus der Zeit um 1840 betrachtet, stellt fest, dass man die Verbindung nach Triest – dem damals wichtigsten Seehafen des Kaiserreichs – auch auf anderem und viel einfacherem Wege hätte erreichen können, nämlich über Ungarn, zu dem auch das heutige Burgenland gehörte. Diese Route war allerdings trotz der einfacheren technischen Lösbarkeit zu keinem Zeitpunkt in Erwägung gezogen worden. Dahinter stand ein schlichter Grund, der aber wohl nicht laut herausposaunt wurde: Die Österreicher hatten kein Vertrauen zu den Ungarn. – Stelle fest, dass ich das auch erst seit kurzem weiß. – Vermutlich waren die politischen Spannungen, die 1867 zum Ausgleich führten, bereits zu groß.
Das Südbahnmuseum in Mürzzuschlag
„Museumspädagogisch“ wunderbar vorgezeichnet war dieser Museumsbesuch nicht nur Quelle für die oben erwähnten neuen Erkenntnisse, sondern auch für eine weitere Überraschung in Bezug auf die Impulse aus den USA, und zwar wie folgt: Ältestes Ausstellungsstück unter den allesamt sehenswerten Dampflokomotiven ist die „Steinbrück“. Erst seit etwa einem Jahr steht sie hier, hochglanzpoliert, Baujahr 1848. Benannt ist sie nach einem damaligen Eisenbahnknotenpunkt im heutigen Slowenien. Es handelt sich um die älteste noch erhaltene und in Österreich gebaute Lokomotive. Konstruiert hat sie – man staune – ein offenbar in Wien tätiger Amerikaner namens John Haswell, und zwar nach amerikanischem Vorbild, was für Techniker leicht erkennbar ist im Vergleich mit den typischen Loks aus der „Wildwest“-Ära.
Reminiszenz zu Harpers Ferry
Gedanklicher Sprung in die USA und Erinnerung an Harpers Ferry: Der Ort liegt an der Einmündung des Shenandoah in den Potomac, genau im Dreiländereck Virginia, West Virginia und Maryland. Einst blühende Handelsstadt, mit großem Arsenal, im Bürgerkrieg fast völlig zerstört und – wie viele Orte in dieser Gegend – nicht wieder aufgebaut. Noch früher Ausgangspunkt von Expeditionen von Lewis und Clark. Heute nur mehr als historisch bedeutsamer Ort wahrgenommen mit viel Tourismus. Für Weitwegwanderer eine der zahlreichen Wegstationen des Appalachian Trail, der 3.500 km von Georgia nach Maine führt.
Amerikanische Eisenbahn heute
Der von zwei mächtigen und kreischend hupenden Diesellokomotiven angeführte, ausschließlich mit Containern beladene Güterzug ist schier endlos, das Getöse am Fußgängersteig, der vom West-Virginia-Ufer parallel zu Eisenbahnbrücke über den Potomac führt, ist kaum auszuhalten. Am Ende der Brücke, die schon in Maryland liegt, verschwindet er in einem Tunnel. – Vor mehr als eineinhalb Jahrhunderten ist Ghega hier durchgekommen auf dem Weg von Baltimore in die Appalachen. Ein Teil dieses Gebirges nennt sich Allegheny, zur Zeit Ghegas hieß es Alleghany. Die Eisenbahnbrücke hat damals noch anders ausgesehen, auch der Ort hier. Und der Zug, in dem Ghega saß, dürfte weniger Krach gemacht haben.
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Publikationen Ghegas:
Die Baltimore-Ohio Eisenbahn über das Alleghany-Gebirg mit besonderer Berücksichtigung der Steigungs- und Krümmungsverhältnisse. Kaulfuß Witwe und Prandel, Wien 1844
Über nordamerikanischen Brückenbau und Berechnung des Tragvermögens der Howe’schen Brücken. Kaulfuss Prandel, Wien 1845.
Einige Quellen und Links:
https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_von_Ghega
https://www.suedbahnmuseum.at/at/
https://www.lok-report.de/news/europa/item/48660-oesterreich-steinbrueck-in-muerzzuschlag.html